Viele besondere Bücher habe ich in diesem Jahr gelesen, Bücher, die mich berührt und bewegt, gefordert und in vielerlei Hinsicht bereichert haben. Auf die besten blicke ich noch einmal zurück, denn sie stellen einen schönen Querschnitt durch das Reich der Literatur dar und demonstrieren auf wunderbare Weise die Vielfältigkeit des geschriebenen Wortes. So beinhaltet mein Best-of in diesem Jahr ein Sachbuch, einen Gedichtband, eine Gedichtanthologie, zwei Klassiker und vier zeitgenössische Romane.
Also Vorhang auf für die Bücher 2024:
"MARSEILLE 1940. DIE GROẞE FLUCHT DER LITERATUR"
von Uwe Wittstock
Am nachhaltigsten beeindruckt hat mich 2024 ein Sachbuch - und was für eins! Wittstocks größtes Verdienst liegt sicherlich darin, Varian Fry endlich die Würdigung zukommen zu lassen, die er verdient. Denn ohne Fry wären hunderte weitere Menschen in den KZs der Nazis ermordet worden, darunter die bedeutendsten Geistesgrößen, die Deutschland im letzten Jahrhundert hervorgebracht hat. Dieses Sachbuch müsste durch seine Dringlichkeit und Aktualität Pflichtlektüre werden!
Womöglich lag es aber nicht nur an der Anschaulichkeit, mit der Wittstock hier dieses Kapitel der (Literatur-)Geschichte aufgedeckt hat, nicht nur an dem Erzählton, mit dem er den Verdienst Varian Frys und das Schicksal so vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller herausstellt. Mitunter lag es wohl auch an meiner eigenen Lektüreerfahrung, denn ich flog durch die Zeilen, während ich selbst durch die Straßen Marseilles lief, und konnte anhand der Karten und Beschreibungen viele Orte aufspüren und den Geist der Vergangenheit atmen.
Lest den ganzen Beitrag zu diesem großartigen Buch und meinen Erlebnissen hier: Marseille 1940.
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"SOLO FÜR PHYLLIS"
von Christoph Danne
Einer der feinfühligsten und zartesten Texte, die ich jemals gelesen habe. In leisen poetischen Bildern und einer verspielten Sprache versucht das lyrische Ich sich dichtend dem Leben zu nähern. Zwischen Freude und Angst, zwischen Aufregung und Unruhe hin und her gerissen, begleitet es sowohl Schwangerschaft als auch Geburt eines Kindes, bei dem Ärzte den Eltern nahelegten, es wegen schwerwiegender geistiger Beeinträchtigung nicht zu bekommen. Das lyrische Ich schreibt an gegen diese innere Leere, die es auffrisst, schreibt sich los vom Erstarren und der Panik, schreibt hin gen Leben und feiert dieses dadurch auf eine einzigartige Weise.
Es gibt wenige bewegendere und lebensbejahendere Texte, die ich bislang gelesen habe - genau genommen keins.
Lest den ganzen Beitrag hier: solo für phyllis.
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"DIE WISSENDEN"
von Mircea Cărtărescu
Cărtărescu macht, was nur Cărtărescu machen kann. Er lässt die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Realität und Traum verschwimmen, wie kein anderer. Bukarest wird als ein lebender Körper beschrieben, Häuser, Plätze, Straßenbahnen und vielem mehr haftet etwas Organisches an, das Erzählte changiert zwischen Bewusstsein und Halluzination. Alles erscheint alptraumhaft, monströs, lebendig. Und ganz nebenbei wird die Geschichte Rumäniens erzählt, als sei es ein Bild von Hieronymus Bosch.
Ein überwältigender Roman voller Bilder und Metaphern, den ich jedem ans Herz legen kann, der einmal etwas anderes lesen möchte, etwas wirklich anderes, aber dennoch Großartiges.
Hört meine Podcastfolge mit Tino Schlench dazu: Folge 8: LetteraTour meets Literaturpalast.
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"MELANCHOLIE"
von Jon Fosse
Man könnte die Geschichte als einen klassischen Künstlerroman lesen, allerdings hebt Jon Fosses Stil ihn aus der Masse hervor. So plastisch und lebensnah habe ich noch niemals Gedankengängen eines Manisch-depressiven beigewohnt. Es ist eindrücklich, wie der nie versiegende innere Monolog, die ständig kreisenden Gedanken den Protagonisten in den Wahnsinn führen. Man erlebt, wie er immer wahnhafter, neurotischer und psychotischer wird, wie er allmählich Stimmen vernimmt und Halluzinationen erspinnt. Zugleich wird man aber auch direkter Zeuge seiner Feinfühligkeit, die ihn zwischen Selbsterniedrigung und Selbsterhöhung hin und her schmeißt.
Ein unvergleichlicher Roman!
Lest den ganzen Beitrag hier: Melancholie.
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"ALLE MENSCHEN SIND STERBLICH"
von Simone de Beauvoir
Ein Klassiker, in dem es um nichts weniger als den Sinn des Lebens geht. Fosca wird im 13. Jahrhundert geboren und erlangt durch einen Trank Unsterblichkeit. Durch seine Augen sehen wir 600 Jahre Menschheitsgeschichte, 600 Jahre Krieg und Zerstörung, Ränkespiele, Habsucht und Gier, aber auch Liebe und Hoffnung. Es ist das gleiche Muster, immer und immer wieder. Das Verlangen nach Unsterblichkeit ist wohl so alt wie der Mensch selbst, doch was geschieht mit einem, wenn man wirklich ewig leben würde? Hier erfahren wir es, denn für Fosca wird alles sinnlos. Sinn erhält das Leben erst durch die Endlichkeit, denn alles, was wir erleben, wird erst durch die Vergänglichkeit zur Einzigartigkeit.
Dieser Roman hat mich überwältigt. Einer der besten, die ich jemals gelesen habe.
Hört meine Podcastfolge mit Uwe Kalkowski dazu: Folge 14: LetteraTour meets Kaffeehaussitzer.
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"DIE KUNST, EINE SCHWARZE KATZE"
von André David Winter
André David Winter hat einen sehr einfühlsamen Roman geschrieben, der in leisen Tönen die großen Fragen nach der Kunst aufwirft. Denn was ist eigentlich Kunst? Wie findet man sie? Und wenn man den Drang zur künstlerischen Betätigung in sich spürt, lässt er sich verleugnen, lässt er sich begraben, ja ignorieren? Das Künstlerdasein ist oft ein fragiles, steht meist im Gegensatz zu den bürgerlichen Pflichten, die uns auferlegt werden, zu der Enge des Lebens, die der Alltag zieht. Die Freiheit, die es zur künstlerischen Entfaltung braucht, ist oft mühsam zu erkämpfen und diesem Weg zu folgen, bleibt oft schwer. Dennoch macht dieser Roman eines klar: Es ist nie zu spät, aus dem Alltag auszubrechen und sich der Kunst hinzugeben.
Ein wahrliches Kleinod. Ein wunderbarer Roman, sanft, klug und inspirierend.
Lest den ganzen Beitrag hier: Die Kunst, eine schwarze Katze.
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"DAVID COPPERFIELD"
von Charles Dickens
Der Weg des Halbwaisen David ist schwer und müßig, er begegnet Freunden und Feinden, muss sich gegen immense Widerstände behaupten und schafft durch Fleiß, Mut und Herzlichkeit den Aufstieg vom ausgebeuteten Kind zum angesehenen Schriftsteller im Erwachsenenalter. Doch das Besondere am Roman ist nicht so sehr die Geschichte des kleinen David, als vielmehr die bunten Figuren, die Dickens hier entworfen hat und die mit den Jahren unsterblich geworden sind. Mit nur wenigen Worten erweckt Dickens seine Charaktere und malt ein buntes Figurentableau, das seinesgleichen sucht.
Und so kann man nur sagen: Wenn Shakespeare den Menschen mit all seinen Facetten, all seinen Leidenschaften und Beweggründen auf die Bühne gebracht hat, hat Dickens ihn in Sätze gebannt.
Hört meine Podcastfolge mit Ilke Sayan dazu: Folge 15: LetteraTour meets BuchGeschichten.
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"VOR DER NACHT"
von Salih Jamal
Der Roman zeigt auf beeindruckende Weise, wie sich Traumata in Kinderseelen festsetzen und Wunden, die in frühen Jahren gerissen wurden, manch einen Erwachsenen fürs Leben zeichnen. Im ewigen Bemühen, die Blutung irgendwie zu stillen, geht man bis zur völligen Selbstaufgabe, Hauptsache, die Leere wird gefüllt und der Schmerz zeitweise gelindert. Wie in all seinen Romanen ist Salih Jamals Sprache bei alldem sehr bildreich, manchmal blumig, oft zärtlich und sanft, an anderen Stellen wieder schroff und brutal. Der Bilder und Vergleiche sind viele, dabei balancieren seine Sätze stets auf dem schmalen Grat zwischen Poesie und Kitsch, halten sich aber wie ein Hochseiltänzer auf dem Seil und meistern auf großartige Weise den Drahtseilakt.
Der Roman ist tragisch, melancholisch und vor allem eines: mitreißend!
Lest den ganzen Beitrag hier: Vor der Nacht.
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"AH, EIN HERZ, VERSTEHE. GEDICHTE VON HEILENDEN UND KRANKEN AUS 500 JAHREN"
hrsg. von Jakob Leiner
Versammelt sind hier Gedichte aus den Epochen der letzten 500 Jahre, die alle ihre eigene Melodie aufweisen. Mal barock lamentiert, mal romantisch verklärt, mal nüchtern seziert, dann wieder heiter bespielt, sehen wir Klagen und Sonette, Rezepte und Tinkturen, Spott und Verständnis, Witz und Schmerz im Wandel der Zeit. Die Dichtenden stammen aus dem Kreis der angewandten Medizin oder sind selbst Kranke, Siechende und Süchtige. Doch nicht nur die Verfasser sind Heilende und Kranke, auch die Gedichte entstammen dem Kosmos um Krankheit und Genesung. Dabei steht immer das Wort im Vordergrund, so wie es auch Jahrtausende lang bei Ärzten an erster Stelle kam, das Wort in all seiner Stärke und Besonderheit, in all seinem Facettenreichtum und seiner Vielfalt.
Eine ganz außerordentliche Anthologie, erschienen in einer wunderschönen Aufmachung.
Lest den ganzen Beitrag hier: Ah, ein Herz, verstehe.