...liest gerade Gedichte von Heilenden und Kranken aus 500 Jahren

Medizin und Lyrik? Ja, passt das denn überhaupt zusammen?

Und wie!

 

Heilen wurde tausende Jahre lange als Kunst angesehen und so hat Jakob Leiner, seines Zeichens selbst Lyriker und Arzt, mit der Anthologie „Ah, ein Herz, verstehe“ eine erstaunliche Sammlung an Gedichten zusammengestellt, die alle dasselbe eint. Die Dichtenden stammen aus dem Kreis der angewandten Medizin oder sind selbst Kranke, Siechende und Süchtige. So ist der Dichterarzt Benn ebenso vertreten wie der Syphilispatient Baudelaire, der entrückte Turmbewohner Hölderlin ebenso wie die tablettensüchtige Bachmann.

 

Doch nicht nur die Verfasser sind Heilende und Kranke, auch die Gedichte entstammen dem Kosmos um Krankheit und Genesung. So gibt es poetische Schilderungen von Pest und Cholera, von Syphilis und Typhus, Tuberkulose, Leukämie und Demenz.

 

Versammelt sind dabei Gedichte aus den Epochen der letzten 500 Jahre, die alle ihren eigene Melodie aufweisen. Mal barock lamentiert, mal romantisch verklärt, mal nüchtern seziert, dann wieder heiter bespielt, sehen wir Klagen und Sonette, Rezepte und Tinkturen, Spott und Verständnis, Witz und Schmerz im Wandel der Zeit.

 

So schütteln wir mit Sebastian Brand den Kopf über die Narren, die gegen ärztlichen Rat handeln, betrachten mit Melanchthon Krankheiten als Gottes Bestrafung, beschauen mit Goethe Schillers Schädel, sehen durch Heines Augen Krankheit als Grund des Schöpfungsdrangs an, träumen uns mit Elisabeth Kulmann zur Genesung in südlichere Gefilde, verbinden mit Whitman abscheuliche Verletzungen im Lazarett und beäugen uns mit Kästner selbst von innen.

 

Hier gibt es eine Menge zu entdecken. Textnachweise und Anmerkungen sowie ein augenzwinkerndes Biogramm zu allen Dichtenden, das manch lautes Lachen gebiert, runden diesen besonderen Band ab. Dabei steht immer das Wort im Vordergrund, so wie es auch Jahrtausende lang bei Ärzten an erster Stelle kam, das Wort in all seiner Stärke und Besonderheit, in all seinem Facettenreichtum und seiner Vielfalt.

 

Eine ganz außerordentliche Anthologie und erschienen in einer wunderschönen Aufmachung.

 

 

Jakob Leiner (Hrsg.): Ah, ein Herz, verstehe. Gedichte von Heilenden und Kranken aus 500 Jahren

Anthologie

Klappenbroschur, 280 Seiten

Quintus Verlag, 2024 Berlin