...liest gerade „Die Jahre“ von Annie Ernaux

Der Strom der Zeit reißt alles mit sich. Alles, was einmal war, wird unweigerlich verschlungen.

Es sind wenige Erinnerungen, die bleiben, Erinnerungen aus Bildern, Gerüchen und Gefühlen.

 

Wie kann man diese festhalten? Wie kann man sie dem Strom der Zeit entreißen? Wie kann man ihnen Bedeutung beimessen, bevor auch sie vergehen und sich niemand mehr ihrer erinnert?

 

Die Erzählerin in Annie Ernaux’ Roman betrachtet Fotos aus verschiedenen Stadien ihres Lebens und lässt währenddessen 70 Jahre Revue passieren. Aus dem individuellen Gedächtnis erwächst dabei mehr und mehr ein kollektives, denn beschrieben wird das bunte Panorama eines ganzen Lebens samt all seiner Umstände, von der Nachkriegszeit über die wilden 60er Jahre und den liberalen 80ern bis zu den Anfängen des neues Jahrtausends. Dabei werden die verschiedenen Epochen mit ihren geistigen, kulturellen und politischen Strömungen so plastisch heraufbeschworen, dass man sich mitten in diesen Jahren zu bewegen scheint.

 

Beschrieben wird die Nachkriegszeit mit ihren Entbehrungen und dem allgemeinen Schweigen, beschrieben wird der immer weiter um sich greifenden Konsumwahn, der unsere Gesellschaft heute tief prägt, beschrieben werden aber auch die Hoffnungen und Erwartungen der 60er Jahre, die französischen Banlieus und der Umgang mit Migranten, die Liberalisierung der Politik und des Marktes als auch das Wiedererstarken des Rechtsextremismus.

 

Mittendrin verfolgt diese Frau ihren Weg, eine Frau, die in einer prüden Welt aufwächst, die enge Grenzen besonders für „das andere Geschlecht“ aufzeigt, eine Frau, die in den 60er Jahren die sexuelle Befreiung durch die Antibabypille feiert und sich dennoch plötzlich in der Rolle der Mutter und Ehefrau wiederfindet, ja eine Frau, die erst spät selbstbestimmt ihren Weg geht und durchs Schreiben endlich zu sich selbst findet. Denn durch das Schreiben hält sie fest, was ansonsten unweigerlich vergehen würde.

 

Der Text ist ein Seismograph der letzten siebzig Jahre – eigentümlich, aber großartig. Zudem ist er mit Themen wie Migration, Emanzipation, Gleichberechtigung, Konsum, Liberalismus und Krieg heute aktueller denn je.

 

 

Annie Ernaux: Die Jahre

Roman, aus dem Französischen von Sonja Finck

Broschur, 255 Seiten

Suhrkamp Verlag, 2017 Berlin