Wie überwindet man Wunden, die in der Kindheit gerissen werden?
Und wie findet man Worte für das Unsagbare?
Dies ist die Geschichte von Frei, Pappel, Lilly, Sinan, Beria und natürlich Jonas, genannt Jimmy. Sie alle leben im Heim der Wölfin, einem Kinderheim in der Bretagne, gelegen zwischen Autobahn und Wald. So unterschiedlich ihre Charaktere auch sein mögen, so eint sie doch alle dasselbe: der schmerzvolle Verlust von Geborgenheit und Liebe. In ihrem Leiden vereint, bilden sie eine Gemeinschaft, durch die sie die Ängste und Kümmernisse zu überwinden verstehen. Als jedoch eine Tages Frei und Sinan spurlos verschwinden, zerbricht die Gemeinschaft und ihre Wege trennen sich.
Jahre später macht sich Jimmy auf die Spur seiner einstigen Freunde. Dabei deckt er immer weiter auf, was damals geschehen ist, und muss sich den Geistern der Vergangenheit stellen. Ist es zu spät oder kann er seine Freunde noch retten? Kann er sich selbst retten?
Der Roman zeigt auf beeindruckende Weise, wie sich Traumata in Kinderseelen festsetzen und Wunden, die in frühen Jahren gerissen wurden, manch einen Erwachsenen fürs Leben zeichnen. Im ewigen Bemühen, die Blutung irgendwie zu stillen, geht man bis zur völligen Selbstaufgabe, Hauptsache, die Leere wird gefüllt und der Schmerz zeitweise gelindert.
Der Roman erzählt aber auch von der Kraft der Literatur, denn Jimmy verarbeitet seinen Schmerz, indem er schreibt. Im Schreiben findet er, was die Welt ihm nicht zu bieten vermag, kann sich dort verstecken als auch selbst finden. Und so wird er Schriftsteller.
Wie in all seinen Romanen ist Salih Jamals Sprache bei alldem sehr bildreich, manchmal blumig, oft zärtlich und sanft, an anderen Stellen wieder schroff und brutal. Der Bilder und Vergleiche sind viele, an manchen Stellen vielleicht zu viele. Dabei balancieren seine Sätze stets auf dem schmalen Grat zwischen Poesie und Kitsch, halten sich aber wie ein Hochseiltänzer auf dem Seil und meistern auf großartige Weise den Drahtseilakt.
„Vor der Nacht“ erschien im Leykam Verlag und ist ein Kleinod – tragisch, melancholisch und vor allem eines: mitreißend.
Salih Jamal: Vor der Nacht
Roman
Hardcover, 320 Seiten
Leykam Buchverlag, Graz & Wien 2024