...liest gerade „Das Philosophenschiff“ von Michael Köhlmeier

Nie hat sie über das Erlebte gesprochen.

Nie hat sie sich jemandem anvertraut.

Doch nun bricht sie ihr Schweigen – 86 Jahre danach.

 

Anouk Perleman-Jacob, eine der bedeutendsten Architektinnen des 20. Jahrhunderts, begeht ihren 100. Geburtstag. Unter den Eingeladenen ist auch der Schriftsteller Michael, den sie bittet, ihre Geschichte niederzuschreiben. Und so treffen sie sich später in ihrer Villa, wo die betagte Frau von einer Episode ihres Lebens erzählt, die sie bislang verschwiegen hat.

 

1908 in eine reiche und gebildete Familie geboren, musste sie mit ihren Eltern 1922 aus dem verarmten St. Petersburg emigrieren. Es tobte der Krieg der Bolschewiki gegen die Menschewiki und da den Kommunisten Intellekt verdächtig war, musste die Familie das Land verlassen. Mit einer Handvoll anderer Verdächtiger wurden sie auf ein Schiff gebracht, das sie über die Nordsee nach Deutschland bringen sollte. Auf dem riesigen Schiff streifte die 14jährige Anouk oft allein umher und fand eines Nachts noch einen weiteren Passagier, abseits der wenigen anderen, die mit ihnen das Schiff bestiegen hatten. Es war ein Mann im Rollstuhl, alt und gebrochen, gezeichnet von einer Krankheit. Es war Wladimir Iljitsch Lenin.

 

„Erzählen ist wie eine Revolution machen.“

 

Im Plauderton und mit viel Witz legt Köhlmeier hier der alten aber energischen Dame die Worte in den Mund. Ein Bild aus der Zeit des Umbruchs entsteht, aus der Zeit des russischen Bürgerkriegs, in der Elend, Hunger und Verfolgung herrschte. Ein Krieg der Dummheit gegen die Intelligenzija, die stets als Erstes angegriffen wird.

 

Die Philosophenschiffe gab es wirklich. Im Jahre 1922 verschickte die entstehende UdSSR hunderte Menschen per Schiff und verwies sie des Landes. Trotzki nannte es einen Akt der Humanität, da man den Personen zwar nichts vorwerfen könne, sie wegen ihrer intellektuellen Art aber verdächtig seien und man sie deswegen mit Sicherheit später erschießen müsse. Gekonnt verwebt Köhlmeier den historischen Stoff mit seiner Phantasie und macht daraus ein intelligentes und unterhaltsames Stück Prosa, das durch seinen Stil brilliert.

 

 

 

Michael Köhlmeier: Das Philosphenschiff

Roman

Hardcover, 224 Seiten

Hanser Verlag, München 2024