Auf den Spuren Varian Frys und der deutschen Literatur
LE DÉSASTRE
Es ist 1940. Seit einem Jahr überfällt Deutschland seine Nachbarn und bringt Tod und Zerstörung. Nach Teilen der Tschechoslowakei, die sich die Deutschen einverleibt haben, nach Polen, Norwegen und Dänemark, die sie überrannten, haben sie es nun auf Frankreich abgesehen. Die Panzer rollen bereits durch Belgien, unaufhaltbar, unbezwingbar. Nichts und niemand scheint sie stoppen zu können.
Die Grande Nation bereitet sich panisch auf den Angriff vor, doch auch sie haben der Übermacht aus Deutschland nichts entgegenzusetzen. Bei Dünkirchen werden schließlich hunderttausende eingekesselte französische und britische Soldaten in einer beispiellosen Aktion über den Kanal gesetzt und gerettet. 80.000 weitere Soldaten hingegen gehen in Gefangenschaft. In nur wenigen Wochen kapituliert das stolze Land, dessen Grenzen nur 25 Jahre zuvor in unbarmherzigen Stellungskriegen jahrelang verteidigt wurden. Später wird man von den deutschen Blitzkriegen reden, aus französischer Sicht von le désastre. Marschall Pétain schließt ein Friedensabkommen mit dem Deutschen Reich und darf im Süden unter diktatorischer Vollmacht herrschen, allerdings immer den Deutschen und ihren neuen Gesetzen verpflichtet.
DAS WHO IST WHO DER DEUTSCHEN LITERATUR
Seitdem die Nazis 1933 an die Macht gekommen sind, haben sich viele Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in Frankreich niedergelassen, vornehmlich in Paris oder an der Mittelmeerküste, an der Côte d’Azur oder in der Provence, darunter Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger, Anna Seghers und Hanna Arendt, Franz Werfel und Anna Mahler-Werfel. Relativ unbehelligt können sie ein gutes Leben führen. Doch als die deutschen Truppen angreifen und das Land einnehmen, werden sie zum zweiten Mal zu Geflüchteten - dieses Mal jedoch ohne Ausweg.
Die Gestapo sucht mit Listen nach den bekannten Persönlichkeiten und Gegnern Hitlers. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Wohin sollen sie fliehen, wohin können sie überhaupt fliehen? Ringsherum sind alle Länder besetzt oder stehen ebenfalls unter faschistischer Herrschaft. Es scheint kein Entkommen zu geben. Da begibt sich ein Amerikaner auf den Weg nach Marseille, um ebendiese Menschen zu retten.
VARIAN "THE CONTRARIAN"
Das Verdienst von Varian Fry, dem oft streitbaren Menschen, der sich wenig um Vorgesetzte und Regeln kümmerte - was ihn schon in den USA den Namen "the contrarian" einhandelte -, kann gar nicht hoch genug angerechnet werden. Dass sein Name bis heute nur Experten vertraut ist, dass es vor allem in Deutschland keine Erinnerungskultur um seine Verdienste gibt, ist wahrlich eine Schande. Denn dieser Mann ist es, der gedankenschnell den Abgrund erkennt, der sich für die deutschen Emigranten in Frankreich auftut, und das ERC gründet, das Emergency Rescue Committee. Getrieben vom Willen zu helfen veranstaltet er Spendengalas, auf denen er Geld für seine Unternehmung sammelt, und reist nach Marseille. Dort baut er die Hilfsorganisation auf, engagiert Helfer und Helfershelfer, die immer neue Fluchtrouten planen und finden müssen.
Trotz der widrigen Umstände und der eigenen Gefahr, der er sich aussetzt, schafft er es, hunderten Menschen das Leben zu retten. Gewürdigt wird er kaum, weder in den USA noch im späteren Deutschland. Dass Heinrich und Golo Mann, Lion Feuchtwanger und seine Frau, die Werfels und viele andere nicht den Nazis in die Hände gefallen sind, ist allein sein Verdienst. Seines und das der vielen Helfern, die sich ebenfalls in größte Gefahr begaben, darunter auch viele französische Soldaten, Polizisten und Zivilisten, die Befehle ignorierten und den Flüchtlingen halfen, zu entkommen.
ALS DIE DEUTSCHEN DIE FLÜCHTLINGE WAREN
Dieses Buch ist aufwühlend und erschütternd, denn es liest sich wie ein Thriller,
allein: Es ist Realität.
Es erzählt von den Flüchtlingsbewegungen in Europa, von bis zu zehn Millionen Menschen, die in Frankreich vor den Deutschen fliehen mussten. Es erzählt davon, was es überhaupt heißt, Flüchtling zu sein, von Krieg und Verfolgung bedroht zu werden, jeden Atemzug um sein Leben fürchten zu müssen, nicht zu wissen, wie und wohin es weitergeht... oder ob es überhaupt weitergeht. Es schärft den Blick auf die heutigen Flüchtlingsbewegungen, denn einst traf es auch die Deutschen, die auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen waren - und es könnte sie jederzeit wieder treffen. Es erzählt von der perfiden Maschinerie der Wehrmacht, die ihre Soldaten unter Drogen setzte, damit diese nicht schlafen mussten, sondern wie Berserker immer weiterkämpfen konnten. Es erzählt von den Kriegsverbrechen der Deutschen, die sogar zivile Flüchtlingstrecks unter Beschuss nahmen und so hunderte Menschen töteten. Es erzählt von einem unvorstellbaren Chaos, in dem eine Handvoll Menschen versuchten, anderen das Leben zu retten.
ÜBER DIE BERGE ODER IN DEN TOD
Atemlos habe ich das Buch gelesen.
Manches war mir bereits bewusst, so z.B. der tragische Tod Walter Benjamins oder Heinrich Manns Flucht über die Pyrenäen im hohen Alter. Die Einzelschicksale so vieler anderer Menschen aber nicht. Anschaulich, beinahe minutiös stellt Wittstock sie hier vor, exemplarisch für tausende andere Lebensgeschichten.
So hörte ich auch das erste Mal von den Lagern, in die sich deutsche Exilanten in Frankreich nach dem Überfall begeben mussten, da sie als mögliche Kollaborateure des Naziregimes angesehen wurden, und in denen so katastrophale Zustände herrschten, dass man sie mit KZs vergleichen konnte. Im Lager Les Milles, eines der bekanntesten, malerisch gelegen bei Aix-en-Provence, starben jeden Tag dutzende an Ruhr und Hunger.
HISTORISCHE ORTE
Lesend ging ich durch Marseille, fand einige Orte, an denen sich die tragischen Schicksale abgespielt hatten, allen voran natürlich den Hauptbahnhof mit seiner ausladenden Treppe, wo die Flüchtlinge ankamen oder abfuhren und den ersten oder letzten Blick auf den Boulevard d’Athènes und das Wahrzeichen Marseilles, die Notre-Dame de la Garde, warfen. Wenige Schritte entfernt steht auch noch das Hotel Splendide, in denen das ERC untergebracht war und unermüdlich arbeitete - heute ist es leer und verfallen. Auf der Flaniermeile befindet sich immer noch das prächtige Gebäude des Grand Hotel du Louvre et de la Paix, in dem u.a. Franz Werfel und Anna Mahler-Werfel nächtigten und in dessen Erdgeschoss sich heute eine C&A Filiale ausbreitet. Vergessen darf man natürlich auch nicht den alten Hafen mit seinen Restaurants und Cafés, in denen sich die Emigranten trafen, mit Blick auf das weite Meer, über das man sich eine Fahrt in ein Weiterleben ersehnte.
Unter der Staubschicht von Jahrzehnten liegen diese Geschichten begraben, so viele tragische und hoffnungsvolle Schicksale, so viel Leid und Freude, so viel Dunkelheit und Licht. Desto höher ist der Verdienst Wittstocks, diese Plätze wieder zum Sprechen gebracht zu haben, sodass sie erneut von diesen dunklen Zeiten zu erzählen vermögen - als Mahnung an uns Nachgeborene, aber auch als Aufruf, es nie wieder soweit kommen zu lassen.
Wittstocks größter Verdienst aber liegt sicherlich darin, Varian Fry endlich die Würdigung zukommen zu lassen, die er verdient. Denn ohne ihn wären hunderte weitere Menschen in den KZs der Nazis ermordet worden, darunter die bedeutendsten Geistesgrößen, die Deutschland im letzten Jahrhundert hervorgebracht hat.
Es wäre wohl nicht zu vermessen, Varian Fry einen Ehrenplatz in der deutschen Literaturgeschichte zuzuschreiben.
Und für dieses großartige Buch Uwe Wittstock gleich mit.
Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur
Sachbuch
Gebunden, 351 Seiten
C.H. Beck Verlag, München 2024
Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlags
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Uwe Wittstock (Montag, 15 April 2024 15:29)
Lieber Yannick Dreßen, vielen Dank für diesen engagierten und schönen Artikel und die vielen wunderbaren Komplimente für „Marseille 1940“. Und auch für die Fotos! Ich freue mich sehr. Herzlich Uwe Wittstock
Yannick (Dienstag, 16 April 2024 09:06)
Das freut mich sehr, lieber Herr Wittstock. Danke für dieses Buch!