Der Roman ist eine Abrechnung mit unserer liberalen Wirtschaftsordnung und so aktuell, als spiegelte er unser Zeitgeschehen. Im Fokus steht das Leben Geflüchteter, das vor 100 Jahren nicht anders verlief als heute. Die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben befeuert den Entschluss, alles hinter sich zu lassen und zu fliehen. Es folgen die lange, qualvolle Fahrt ins gelobte Land, die Ausbeutung und Anfeindung vor Ort, die überfüllten und verdreckten Camps, die Demütigungen und das Sich-Verdingen für ein wenig Essen. Die einheimische Propaganda schießt derweil gegen die Neuankömmlinge, gegen die Fremden, die Barbaren, die Vergewaltiger und Mörder, sodass es zu Spannungen, Konflikten und Pogromen kommt.
Der in einigen US-Staaten lange Zeit verbotene Roman schlägt eine heute immer noch anhaltende Kritik am Kapitalismus an, in dem es für Unternehmen tatsächlich profitabler ist, Lebensmittel zu vernichten, als sie zu spenden. Es ist ein Zeitroman, der zugleich mit so vielen Parallelen zur heutigen Zeit aufwartet, dass es erschreckend ist. Die überfluteten und völlig verdreckten Camps erinnern an Moria und andere Lager an der Peripherie Europas, die Propaganda gegen Flüchtlinge ist weltweit weiterhin dieselbe. Auch die Ausnutzung der Arbeitskräfte kommt bekannt vor, denkt man nur an die bevorstehende WM oder an die Menschen, die in unseren Fleischereien oder auf den Spargelfeldern arbeiten.
„Die Früchte des Zorns“ deutet aber auch in die Zukunft hinaus, in der sich zu den Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen auch Klimaflüchtlinge gesellen. Obwohl schon 1939 geschrieben, ist es ein hochaktueller Roman, durch den man die Welt mit anderen Augen sieht.
John Steinbeck: Früchte des Zorns
Roman, aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Lambrecht
Taschenbuch, 544 Seiten
dtv Verlag, München 2021 (Erstausgabe Paul Zsolnay Verlag, Zürich 1940)