...liest gerade "Milchmann" von Anna Burns

Eine junge Frau wird beschimpft und mit einer Pistole bedroht. Gerüchte haben die Runde gemacht, Gerüchte, die töten können.

Zur selben Zeit wird der Milchmann von einem staatlichen Mordkommando getötet. Es herrscht Krieg, ein Krieg, der heute längst vergessen ist, ein Krieg jedoch, der jederzeit wieder aufflammen kann.

 

Die Grenze des Bürgerkrieges zieht sich mitten durch die Städte, teilt Straßen in Feinde und Freunde, die einander gegenüber wohnen. Paramilitärs beherrschen ganze Ortschaften, patroullieren durch Geschäfte und Bars und wechseln sich dabei immer wieder mit dem staatlichen Militär ab, das genauso brutal vorgeht wie die vermeintlichen Terroristen. Ein falsches Wort, ein falsches Symbol, eine falsche Bekundung kann hier den Tod bedeuten.

 

Die namenlose Protagonistin lebt in einer kleinen Stadt, in der klassische Geschlechterrollen dominieren. Frauen werden unterdrückt, belächelt und ausgeschlossen, Männer bestimmen Poltik, Wirtschaft und den Krieg. Der Krieg, der sich besonders an verschiedenen Konfessionen entzündet hat, sich aber auch um Selbstbestimmung gegenüber einer als aufgezwungenen Staatsmacht präsentiert.

 

Es sind die 70er Jahre und wir befinden uns mitten in den blutigsten Jahren des nordirischen Bürgerkrieges. Ständige Angst herrscht vor. Verfolgungswahn und Paranoia zersetzen die Gesellschaft, denn niemand kann sicher sein, wer Freund und Feind ist, derweil beinahe täglich Autobomben explodieren, Menschen verraten, diffamiert, entführt und exekutiert werden. Das ganze Leben spielt sich nur aus einem Knäuel von Gerüchten, Tratsch, Verleumdungen und Lügen ab. Hier zählt nur eines: nicht auffallen.

 

Doch als sich eines Tages der Milchmann für die erst 18jährige Schülerin interessiert, nimmt das Unheil seinen Lauf. Der ominöse Mann stalkt sie, fährt ihr hinterher, geht ihr nach und belästigt sie. Dabei ist der Milchmann nicht irgendwer, er ist einer der ranghöchsten Rebellen, angesehen und einflussreich. Und so entstehen Gerüchte, die neben vielem anderen Tratsch die Runde machen. Plötzlich fällt ein Scheinwerferlicht auf die Protagonistin, das sie nicht mehr los wird und das sie ungewollt mitten auf die Bretter dieses Krieges katapultiert.

 

Klug inszeniert bietet der Roman tiefe Einblicke in den Alltag des Krieges, der beinahe schon vergessen scheint, aber durch den Brexit und die unsicheren zukünftigen Grenzbeziehungen wieder zu eskalieren droht. Ein Riss geht durch die Gesellschaft, geht selbst durch Familien, die sich immer mehr entzweien, ein Riss, der nicht mehr zu kitten ist. Verlorenes Vertrauen und ständige Angst ums Leben spiegeln die Realität der Menschen wider. Durch Gerede und Gerüchte entsteht eine Welt, die lediglich aus Lug und Trug besteht, doch so leicht entzündbar ist wie ein Fass Dynamit, denn jedes Gerede, jede Verdächtigung zieht Konsequenzen nach sich - tödliche Konsequenzen.

 

Es sind die Erinnerungen der gealterten Protagonistin, die diese Erzählung ausmachen und wie ein Strick geformt sind, der sich immer weiter zuzieht. Man verfällt leichthin dem humorvollen Stil, der oft mit viel Biss und Ironie aufwartet, bis einem angesichts der geschilderten Zustände das Lachen im Munde erstirbt. Ein hervorragender Roman über den Nordirlandkonflikt, den die Autorin selbst miterlebt hat, ausgezeichnet mit dem an Booker Prize 2018.

 

 

 

Anna Burns: Milchmann

Roman, aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll

Hardcover, 452 Seiten

Tropen Verlag, Stuttgart 2020