...liest gerade "Vater Unser" von Angela Lehner

Eva ist redselig. Sie ist klug, intelligent, jung und nervig.
Und vor allem ist sie eins: in der Psychiatrie.

Der Roman beginnt mir ihrer Einlieferung in das Otto-Wagner-Spital in Wien. In den Sitzungen mit ihrem behandelnen Arzt Doktor Korb werden nach und nach Bruchstücke ihrer Kindheit zutage gefördert. Sie gibt zu, dass sie und ihr Bruder vom Vater vergewaltigt worden seien, und sie deshalb eine Kindergartengruppe erschossen habe. Doch bei ihren Aussagen zeigt sie keinerlei Gefühlsregungen, sondern redet flappsig daher und nimmt kein Blatt vor den Mund. Kann man ihr also trauen?

In den Therapiestunden wird schnell klar, dass Eva eine notorische Lügnerin ist. Sie erfindet Geschichten, um ein Bild von sich zu stricken, einen Schutzmantel, hinter dem sie sich versteckt. Und so liegt der wahre Grund ihrer Einweisung wohl in dem Versuch, ihrem Bruder näher zu kommen, der in derselben Klinik wegen seiner Magersüchtigkeit therapiert wird. Sie sucht seine Nähe, will den abgebrochenen Kontakt zu ihm wieder aufnehmen. Doch der Bruder weist sie schroff ab, ist genervt und will nichts mit ihr zu tun haben.

Als schließlich auch noch die Mutter hinzukommt, verwandelt sich die Therapie in eine Familiensitzung. An allem, was diese Familie belastet, gibt Eva dem Vater die Schuld. Der Vater, der sie verlassen hat und eine neue Familie gründete, während Mutter und Kinder dem Untergang entgegen fielen. Und so macht Eva sich eines Tages auf, ihn zu töten. Sie will Rache. Doch statt Genugtuung findet sie die Wahrheit und steht plötzlich vor dem Trauma ihrer Kindheit.

Gute Kritiken führten den Roman bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Vor einigen Tagen wurde Angela Lehner dann mit dem Debütpreis des Österreichischen Buchpreises ausgezeichnet. Und wie der Schutzumschlag verrät, würde Joachim Meyerhoff diese Eva sogar am liebsten immerzu würgen und küssen, denn sie geht ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Lobeshymnen, die ich nur schwerlich teilen kann. Natürlich sind manche Szenen witzig gestaltet und man fragt sich als Leser, was denn mit dieser Protagonistin eigentlich nicht stimmt. Doch auf Dauer nervt nicht nur Eva, sondern auch die Lektüre. Von Anfang an versteht man, dass sie nur Geschichten spinnt, um von einem unverarbeiteten Trauma abzulenken, das in ihr schwelt. Aus Selbstschutz tischt sie sich und ihren Mitmenschen deswegen fortwährend Lügen auf. Allerdings wird man dabei kaum auf falsche Fährten gelockt, wie viele Kritiker behaupten, sondern man durchschaut ihr Spiel nach wenigen Seiten. Der Reiz des Themas, von dem ich mir viel mehr erhofft hatte, dieses Spiel von Illusion und Wirklichkeit, von einem unzuverlässigen Erzähler, verlor so schnell an Sogkraft. Zurück bleibt so ein Roman, der die Psyche einer Familie zu beleuchten versucht, doch durch Komposition und Audruck auf der Oberfläche verweilt.

 

 

 

Angela Lehner: Vater Unser

Roman

Hardcover, 284 Seiten

Hanser, Berlin 2019