Was für ein Auftakt in das Lesejahr 2019!
"Ich habe mich immer bemüht, der zu sein, der ich bin. Und habe mir trotzdem nicht die Frage gestellt: Wer bin ich?"
Der Wiener Psychiater und Psychoanalytiker Robert Lenobel ist plötzlich verschwunden. Seine Frau Hanna bitte Roberts Schwester Jetti, sofort zu ihr zu kommen. Als sie eintrifft, entspinnt sich nach und nach, meist in Erinnerungen, eine Familiengeschichte, die um Selbstlügen und Identitätsprobleme, Sinnkrisen und Befangenheiten kreist. Jeder der drei Protagonisten, alle um die 50 Jahre alt und eigentlich gut aufgestellt, befindet sich auf einer Suche. Auf der Suche nach Liebe, nach Sinn und besonders nach dem eigenen Ich in einem Leben zwischen Verpflichtungen und Wünschen.
Märchen, die die enorme Themenvielfalt des Romans umreißen, sind den Kapiteln vorangestellt. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven, so dass sich die einzelnen Lebensentwürfe nach und nach zusammensetzen. Doch letztlich entsteht kein Ganzes, denn allesamt bestehen sie aus lauter Brüchen, die nicht gekittet werden können.
"Ich war nie, ich war immer nur gewesen."
Dieser Roman ist einzigartig. Er ist nicht nur mitreißend und in einer klaren, poetischen Sprache geschrieben. Köhlmeier versteht es anhand literarischer Finessen, den Leser unbemerkt in ein dichtes Netz zu spannen. Der Roman ist zudem auch höchst intellektuell. Die großen Themen der Psychoanalyse und Philosophie werden wie nebenbei aufgeworfen, die Frage nach dem Sein, dem Sinn, dem Leben, dem Ich zwischen Über-Ich und Es und vielem mehr.
"Bruder und Schwester Lenobel" ist ein absoluter Lesegenuss, der noch lange nachwirkt. Schon jetzt ein Highlight dieses Jahres!
Michael Köhlmeier: Bruder und Schwester Lenobel
Roman
gebunden, 544 Seiten
München, Carl Hanser Verlag 2018