Stimmen aus der Endzeit - "Unter der Drachenwand" von Arno Geiger

In einer Zeit, in der jeder ums Überleben kämpft, in der jeder versucht, die Schrecken des Krieges zu fliehen, folgt Arno Geiger einer leisen Liebesgeschichte, abseits des alles verschlingenden Krieges - und hangelt sich doch ganz nah an der Apokalypse entlang. Mit leisen Tönen aber auch drastischen Bildern beschreibt er in seinem neuen Roman einen kleinen Rückzugsort inmitten des Grauens, beschreibt das bisschen Hoffnung, das zwischen zwei Personen aufkeimt, mitten in den letzten verheerenden Monaten des Zweiten Weltkriegs.

Herausgekommen ist ein Roman gegen den Krieg. Und gegen das Vergessen.

Veit Kolbe ist jung, gebildet, und bereits gebrochen. Als Soldat wird er Ende 1943 an der Ostfront verwundet und entkommt dadurch dem Massenmorden. Nach einem Lazarettaufenthalt im Saargebiet reist er auf Genesungsurlaub in seine Heimat nach Wien. Doch bei Vater und Mutter, die immer noch an den Endsieg glauben, glauben wollen, hält er es nicht lange aus. Sie üben sich in Durchhalteparolen und wollen von den Fronterfahrungen ihres Sohnes, von den Gräueln, die die deutsche Armee begangen hat und die nun ganz Deutschland einholen, nichts wissen. Veit flieht zur Kur nach Mondsee im Salzkammergut in Oberösterreich.

 

Unter allen Einwohnern und Zugezogenen lernt er dort vor allem die "Reichsdeutsche" Margot kennen.  Mit der Zeit entspinnt sich zwischen ihnen eine zärtliche Liebesgeschichte, über die der Krieg wie ein Damoklesschwert schwebt. Denn nicht nur tobt um sie herum der Weltenbrand und überzeugte Nazis machen Jagd auf Duckmäuser und Abweichler, auch die Wiedereinberufung Veits hängt ständig in der Luft.

 

So bleit ihnen in der dunkelsten Stunde ihres Lebens nur die Hoffnung, Hoffnung auf bessere Tage. Sie versuchen das Abschlachten auszublenden, versuchen, ein Stück Normalität zu schaffen. Doch irgendwann holt sie die Wirklichkeit ein. Als Veits Onkel, seines Zeichen Polizist in Mondsee, einen befreundeten Nachbar wegen dessen unvorsichtigen Äußerungen festsetzt, weiß sich Veit nicht anders zu helfen als mit geladener Pistole zu ihm zu fahren.

 

 

VERLORENE GENERATION

 

In Tagebuchform schreibt Veit Kolbe seine Erlebnisse nieder und steht stellvertretend für eine verlorene Generation. Eine Generation, die nach dem Ersten Weltkrieg geboren wurde, die Indoktrination des Dritten Reiches erleben und früh ums Vaterland kämpfen musste. Der Protagonist dieses Romans absolvierte nach dem Abitur seinen Militärdienst und wurde danach, der Krieg hatte gerade begonnen, an die Front geschickt. Nach fünf Jahren Fronterlebnissen ist er müde, ausgelaugt, innerlich verwaist. Freunde und Kameraden sind gefallen, verschollen oder andersweitig unter die zermalmenden Mühlen des Krieges geraten. Er ärgert sich über seine verpasste Jugend, sein verpasstes Leben, fühlt sich seiner besten Jahre beraubt. Und ständig peinigt ihn die Angst, zurück an die Front zu müssen, in den Albtraum, das Massenschlachten einer ganzen Welt. Panikattacken belasten ihn, die er an der Front noch nicht erdulden musste, die sich nun aber immer mehr aufdrängen. Erinnerungen brechen auf, die im Moment des Erlebens vom Drang des Überlebens übertüncht wurden. Der Arzt verschreibt ihm Pervitin, ein Aufputschmittel, das Soldaten im Zweiten Weltkrieg genommen haben - heute bekannt unter dem Namen Crystal Meth.

 

Der befreundete Nachbar,  ein Gärtner, den alle wegen seines Auslandsaufenthaltes nur den Brasilianer nennen, scheint als einziger den Wahnsinn verstanden zu haben. Öffentlich wettert er gegen Krieg, gegen Nationalsozialismus, gegen Hitler. Er schwärmt von dem ursprünglichen und natürlichen Leben in Brasilien und verhöhnt gleichzeitig die europäische Kultur, die sich allen anderen überlegen fühlt und nun in unvorstellbarer Barbarei zugrunde geht.

 

 

VIELSTIMMIGKEIT AM ENDE DES KRIEGES

 

Doch nicht nur Veit Kolbe kommt in diesem Roman zu Wort, auch andere Menschen schildern das Grauen aus ihrer Sicht. Briefe sind in den Roman eingewebt, die ebenfalls Zeugnis von der Barbarei des letzten Jahrhunderts ablegen. Es sind Briefe über den Kriegsalltag in Städten mit ihren ausgebombten Häusern, mit ihren unzähligen Krüppeln und Toten auf den Straßen, den Kämpfen um Essensmarken und Hunger, den Schilderungen von Flüchtlingen und dem Versuch, inmitten des Chaos Normalität zu erhalten, um seelisch nicht vollkommen zu verwahrlosen. Es sind Briefe eines verliebten Jünglings, der letztlich als 16jähriger an die Front eingezogen wird. Briefe einer bangenden Mutter um ihr Kind. Briefe auch eines Juden mit schrecklichen Zeugnissen des Holocausts.

 

Der Roman ist dadurch polyperspektivisch. Das Schicksal Deutschlands und seiner Bürger wird in vielen Stimmen aufgegriffen und beschrieben. Es ist ein Querschnitt durch die Gefühlslage der Menschen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Zum Schluss nimmt ein Herausgeber das Wort an sich und gibt Auskunft über das weitere Schicksal jeder im Roman aufgetretenen Person. Ist der Text also authentisch? Sind es reale Zeugnisse?

 

 

FAZIT

 

Arno Geiger hat einen überzeugenden Roman geschrieben, der abseits vieler vergleichbarer Texte das Grauen im Zweiten Weltkrieg aus einer anderen Sichtweise beschreibt. Besonders eindrücklich wird geschildert, wie sich die Menschen selbst in der schwärzesten Stunde ihres Lebens Normalität zu erhalten versuchen. Manche Beschreibungen sind dabei so eindrücklich, dass man sie nur schwer verdauen kann. Der Roman ist natürlich Fiktion. Arno Geiger vermischt nachbearbeitete (authentische) Briefe mit eigener Phantasie und schreibt einen eindrücklichen Roman, besonders darüber, wie der Krieg den Menschen verändert. Aktualität erlangt der Roman, wenn man der Kriege in Syrien und Irak, Jemen und Afghanistan gedenkt.

 

Dennoch finde ich den Roman nicht vollends gelungen. Auch wenn die Kritik den Roman lobt und er die Bestsellerlisten stürmt, so sind mir die Charaktere in manchen Teilen doch zu eindimensional gestaltet. Auch wirken manche Briefe wie Fremdkörper, die die Erzählung verzerren. So sind die Briefe des Juden unzweifelhaft erschütternde Dokumente des Holocauts, dennoch sind sie für mich in diesem Roman völlig Fehl am Platz.

 

Und so bleibt Unter der Drachenwand für mich ein guter Roman. Nicht mehr, nicht weniger.

 

 

 

Arno Geiger: Unter der Drachenwand

Roman

Gebunden, 480 Seiten

München: Carl Hanser Verlag 2018

 

Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlags