Das große Fressen - "Das Floß der Medusa" von Franzobel

In seinem neuen Roman widmet sich der österreichische Schriftsteller Franzobel einer wahren Begebenheit aus dem Jahre 1816.  Mit viel Ironie und Humor sowie ausschweifenden Beschreibungen und Fabulierlust schreibt er über das Schiffsunglück der Medusa, die sich auf dem Weg nach Afrika befand und kenterte. Da es zu wenige Rettungsschiffe gab, mussten sich 150 Passagiere auf einem Floß durchschlagen. Ohne Essen und Trinken, den Tod vor Augen, zerfielen Zivilisation sowie Kultur und der Mensch wurde sich selbst zum Tier. Plötzlich ging es nur noch ums Überleben - und das sollten nur wenige schaffen.

Es ist ein Julimorgen im Jahre 1816. Wir befinden uns in Frankreich, genauer gesagt, in Rochefort-sur-Mer an der Atlantikküste. Der Wiener Kongress und damit die Neuordnung Europas nach Napoleons Feldzügen liegt gerade ein Jahr zurück. Erneut sitzt ein König  auf dem Thron und versucht, die Umwälzungen Napoleons rückgängig zu machen und das Land zu restaurieren.

 

An diesem Tag wird ein Schiff startklar gemacht, das in den Senegal segeln soll, eine Kolonie Frankreichs. Monarchisten und Revolutionäre gehen ebenso an Bord wie Soldaten und Gouverneure, Siedler samt ihrer Familien als auch Abenteuerlustige, Geschäftstüchtige, die in Übersee von einem Handelsimperium träumen, und Wissenschaftler, die Flora und Fauna erkunden möchten, Glückssuchende und Verbannte, Adlige und Schiffsjungen. Die Passagiere bilden einen bunten Querschnitt durch die französische Gesellschaft, denen allen nur eines gemein ist: Sie wollen das Glück in der Fremde finden und die als überlegen erachtete französische Zivilisation und Kultur verbreiten.

 

Pech nur für die Reisenden, dass der Kapitän an Inkompetenz nicht zu überbieten ist und nur durch Beziehungen und Geschacher an seinen Posten gelangte. Als Anhänger der alten Welt misstraut er allem und jenen, besonders den Offizieren, die auf Seiten seines Todfeindes Napoleon kämpften. So führt er ein hartes Regiment, drückt erbarmungslos seine Regeln durch, die sich bereits auf der Fahrt eigenständig zu machen scheinen. Nur einem Manne ist er hörig, den er aus Kindheitstagen zu kennen meint. Doch dieser anscheinende Jugendfreund stellt sich als Hochstapler heraus, der das Schiff auf die Sandbänke vor Mauretanien lenkt, wo es zur Katastrophe kommt: Das Schiff kentert. Die Gutbetuchten retten sich auf die wenigen Beiboote, der Rest muss auf einem eilig zusammen gezimmerten Floß Platz nehmen, auf dem man bis zu den Knien im Wasser steht. Fortan beginnt das eigentliche Grauen. Unwetter und Naturgewalten schutzlos ausgeliefert gedeihen Rachegelüste, Hunger, Durst, Wahn, Verzweiflung und Todesängste, was schließlich zu Totschlag, Mord und Kannibalismus führt. Nach dreizehn Tagen findet man das Floß auf offener See und von den anfangs 147 Geretteten leben nur noch 15.

 

 

EINE WAHRE BEGEBENHEIT

 

Théodore Géricault, Das Floß der Medusa
Théodore Géricault, Das Floß der Medusa

Das Seeunglück hat sich tatsächlich ereignet und so erzählt Franzobel von einer wahren Begebenheit, die er ins Detail genau recherchiert hat und in den buntesten Farben illustriert. Das nebenstehende Gemälde von Géricault, das auch Franzobel als Inspiration diente, wurde 1819 in Paris ausgestellt und sorgte für einen öffentlichen Eklat, da es die bis dato vertuschte Katastrophe ins öffentliche Bewusstsein rückte.

 

In der Tat verließ das Schiff 1816 Frankreich auf dem Weg in den Senegal und havarierte dank des unfähigen Kapitäns. Da es zu wenige Rettungsboote gab, baute man schlechterdings ein Floß, das 149 Menschen Platz bieten musste. Eigentlich sollten die Boote das Floß bis ans Land ziehen, doch schon bald kappte man die Verbindungsseile und überließ die Menschen ihrem traurigen Schicksal. Mord und Totschlag sowie Kannibalismus traten nach wenigen Stunden zutage, so dass tatsächlich nur 15 Menschen überlebten, von denen in den Tagen nach der Rettung noch weitere 5 starben.

 

Der Schiffsarzt, einer der wenigen Überlebenden der Katastrophe, schrieb einen Bericht nach seiner Rettung, der das Grauen detailgetreu dokumentierte und für einen Aufschrei sorgte, da es die Unzulänglichkeiten der Besatzung, die sträflich unterlassene Hilfeleistung der fanzösischen Elite sowie den barbarischen Kannibalismus aufzeigte, den die französische Gesellschaft in der Heimat nicht mit ihrer hohen Kultur in Einklang bringen konnte.

 

 

ALTER STOFF MODERN ERZÄHLT

 

Im Roman nimmt der Erzähler einen besonderen Platz ein und hebt die Geschichte dadurch aus der Masse an historischen Romanen hervor. Bei der Einführung der Charaktere stellt er sofort klar, wer nur als Nebenperson angesehen werden soll und wem die Rolle als Protagonisten zusteht. Damit stellt er sich als uneingeschränkter exponierter Erzähler dar, der über die Szenerie verfügt, wie ein Regisseur in einem Film. So verlässt er manchmal Personen in ihren Handlungen, die er irgendwann wieder findet, oder schneidet Szenen aneinander, die aus den Augen einer Fliege gefilmt scheinen. Auch stellt er zahllose Vergleiche mit der Gegenwart an, beschreibt Personen anhand französischer Filmschaupieler, vergleicht Menschen, die von Wellen verschlungen werden, mit heutigen Surfern und stellt mancher Situation historische Bilder des letzten Jahrhunderts gegenüber.

 

Zur gleichen Zeit wirkt der Erzählstil jedoch auch barock , ist aufgeladen mit etlichen Beschreibungen und Schilderungen. Der ironische und humoristische Ton verdeckt oft das Grauen, das erzählt wird, um es schließlich desto schrecklicher zu entlarven. Denn Grausiges wird hier berichtet. Der Erzähler geht nicht zimperlich vor.  Dabei verfällt er einem Plauderton, der immer weiter summt, egal, was geschieht. Der Leser ist dadurch dem ausschweifenden Erzähler auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ihm wird kaum Zeit gelassen, innezuhalten, zu verdauen oder nachzudenken.

 

 

FAZIT

 

Trotz der Finessen Franzobels und der durchweg guten Kritik in der Presse bin ich geteilter Meinung hinsichtlich des Romans. Natürlich ist es ein prall gefüllter Roman voller Biss und Ironie und vieles kann man durch die Folie aktueller Geschehnisse interpretieren. So wird vor allem aufgezeigt, was geschieht, wenn man nicht rechtzeitig aufsteht und gegen Unrecht handelt, sondern nur tatenlos zuschaut, bis es zu spät ist und die Zivilisation zerbricht. Gedanken an heutige Verhältnisse kommen während der Lektüre unweigerlich auf. Und natürlich ist es auch ein besonderer Clou, in Zeiten der Migration nach Europa den Spieß umzudrehen und ein Boot voller Europäer kentern zu lassen, die sich auf dem Weg nach Afrika befinden.

 

Und dennoch hat der Roman mich nicht vollends überzeugt. Zum einen liegt es daran, dass das Thema des Menschen, der in Extremsituationen sich selbst zum Wolf wird, schon tausend Mal geschrieben, verfilmt, gelesen und durchexerziert worden ist. Man denke nur an "Lord of the Flies" von William Golding, wo gar Kinder der Barberei verfallen. Es ist demnach nichts Neues, sondern Weg und Endpunkt sind von vorneherein klar. Zum anderen ergeht sich der Erzähler meines Erachtens in zu vielen Beschreibungen, besonders hinsichtlich hochseetechnischer Begriffe der Schiffsfahrt, aber auch bezüglich des Essens, der Kleidung und vielem mehr. Tausende Beschreibungen und Schilderungen wollen ein realitätsnahes Bild der Zeit schmieden, wollen die Gelehrsamkeit des Autors zeigen, arten jedoch seitenweise aus und schießen so oft übers Ziel hinaus, so dass der Plauderton des Erzählers oft aufgesetzt und übersteigert anmutet.

 

Somit bleibt eine durchaus unterhaltsame Geschichte, die auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2017 stand, meines Erachtens aber zu opulent, zu aufgebauscht und auslassend geraten ist.

 

 

 

Franzobel: Das Floß der Medusa

Roman

Taschenbuch, 592 Seiten

Wien: Zsolnay 2017

 

Mehr Informationen und eine Leseprobe auf der Webseite des Verlags

 

 

 

Bildnachweis: Théodore Géricault, Das Floß der Medusa (1818-1819), Musée du Louvre // Quelle: Wikimedia Commons