Schatten der Vergangenheit - "Ein russischer Roman" von Emmanuel Carrère

In der Psychiatrie eines sibirischen Dorfes wird nach Jahrzehnten ein alter Mann aufgefunden, der nur Halbsätze brabbelt und dessen Identität Fragen aufwirft. Als man nachweisen kann, dass er aus Ungarn stammt und schließlich als der letzte Gefangene des Zweiten Weltkriegs gilt, ist dies der Ausgangspunkt einer schrägen Odyssee des Protagonisten und Ich-Erzählers in Emmanuel Carrères autofiktionalem Roman, in dessen Mittelpunkt besonders die Suche nach der eigenen Identität steht.

Im Jahr 2000 wird durch Zufall  in einer Kleinstadt mitten in Sibirien die Identität eines Mannes geklärt, der seit Jahrzehnten in einer psychiatrischen Anstalt schweigsam sein Leben fristet. Anhand eines DNA-Tests stellt sich heraus, dass er Ungar ist, und durch Nachforschungen wird die unglaubliche Geschichte seines Lebens zutage gefördert, die ein riesiges Medieninteresse nach sich zieht. Auf Seiten der Wehrmacht kämpfte er im Zweiten Weltkrieg gegen die anrückende Rote Armee, wurde jedoch von dieser gefangen genommen und verschleppt. Nach jahrelanger Internierung in einem Arbeitslager wurde er in eine Psychiatrie ans Ende der Welt verbannt, in der er schlichtweg vergessen wurde und, wie es den Anschein hat, er sich auch selbst vergaß. Nach nunmehr 56 Jahren wird er wieder in seine Heimat ausgeliefert, wo er bereits als der letzte Gefangene des Zweiten Weltkrieges angesehen wird und sich Medienvertreter aller Welt auf ihn stürzen. Allerdings spricht der Patient kein klares Wort, sondern nur unverständliche Halbsätze, so dass das Interesse bald erlischt.

 

Emmanuel, der Protagonist und Ich-Erzähler des Romans, soll nun eine Reportage über diese kuriose Geschichte schreiben und fährt mit seinem Reporterteam nach Kotelnitsch, mitten in die postkommunistische Provinz, um Nachforschungen anzustellen. Ihn interessiert die Begebenheit besonders, da er, obwohl Franzose, russisch-georgische Ursprünge besitzt und sein Großvater ebenfalls am Ende des Zweiten Weltkriegs spurlos verschwand. 10 Jahre nach dem Zerfall der UdSSR entfaltet sich jedoch ein trostloses Panorama in dem Dorf. Die Menschen sind meist unfreundlich, rauflustig, gewalttätig, wortkarg und dem Wodka mehr als zugeneigt. Trostlos ist das Leben in der Provinz, in dem Korruption und ein Gefühl der Überwachung das Leben dominieren. Die Sehnsucht nach dem Reich der Sowjetunion scheint allgegenwärtig. Rasch wird das ausländische Reporterteam argwöhnisch beäugt und erhält schließlich Drehverbot. Überall stoßen sie auf Ablehnung, doch Emmanuel findet Gefallen an den russischen Traditionen und vertieft sich immer mehr in die russische Lebensweise, durch die er hofft, seiner eigenen Identität auf die Schliche kommen zu können.

 

 

AUF DER SUCHE NACH SICH SELBST

 

Französische Truppen erschießen in Grenoble sechs junge Franzosen, die mit den Deutschen kollaboriert haben (22. September 1944)
Französische Truppen erschießen in Grenoble sechs junge Franzosen, die mit den Deutschen kollaboriert haben (22. September 1944)

Die Geschichte des Ungarn bildet lediglich den Auftakt zu einer schwindelerregenden Odyssee des Protagonisten, der die vage Hoffnung im Herzen trägt, sich selbst und seine Ursprünge aufzudecken. Er ist auf der Suche nach sich selbst und seiner Identität, denn der spurlos verschwundene russisch-georgische Großvater wirft noch bis heute seinen Schatten auf das Leben jeglicher Familienangehöriger, so auch auf ihn. Erst mit der Zeit entdeckt Emmanuel, dass sein Großvater wohl in Frankreich von der Resistance verschleppt und getötet wurde, da er als überzeugter Faschist mit den Nazis kollaborierte. Dieser dunkle Fleck belastet die Familie seit Jahrzehnten, so dass der Name des Opas aus den Familienannalen getilgt wurde. Besonders Emmanuels Mutter, die eine starke Position in dessen Leben und im Roman einnimmt, verbietet sich und anderen über ihn zu sprechen.

 

Im weiteren Verlauf der Erzählung fährt Emmanuel nun immer wieder nach Russland, dreht gar einen Dokumentarfilm, in der Hoffnung, dass irgendetwas vor Ort passiere, doch in der eigentlichen Absicht, Licht in seine Vergangenheit zu bringen. Sein Leiden an der Welt spricht er einzig und allein seinem Ursprung zu, den er zu erkunden wünscht. Ihn quälen nicht nur Bindungsängste, sondern er fühlt sich stets gehetzt und von Wahnsinn und Horror verfolgt. Geschichten von Gefangenschaft und Leid geistern permanent in seinem Kopf herum, so dass er nicht zu Ruhe kommt. Bei seiner Heilung soll ihm besonders die russische Sprache helfen, der er verfallen ist und die viele Erinnerungen in ihm auslöst. Er möchte endlich das dunkle Familiengeheimnis aufklären, das die ganze Familie belastet, und sich somit von seinem Leiden an der Welt befreien. Obwohl der Film zunächst zu scheitern droht, da eine gähnende  Langweile alles ist, auf das das Team in dem sibirischen Dorf stößt, geschieht am Ende doch noch eine unerhörte Begebenheit, die dem Film sowie dem Buch, das Emmanuel schreiben wird und ebenjenes Buch darstellt, das der Leser in den Händen hält, als Aufhänger dienen wird.

 

Zeitgleich zu den ganzen Reisen nach Russland sowie zu sich selbst spielt auch noch eine Liebesbeziehung eine große Rolle im Roman. Emmanuels Freundin Sophie lebt allerdings in Paris, reist nie mit nach Russland und teilt keineswegs seine Verzückungen für die russische Sprache und Mentalität. Ihr Verhältnis wird in vielen Angelegenheiten auf die Probe gestellt, auch wenn sich beide wahrhaftig lieben. Sie droht am Eigensinn Emmanuels und seiner Suche nach sich selbst, aber auch an seiner beinahe schon krankhaften egozentrischen, rachsüchtigen und verletztenden Art und Weise zu zerbrechen. Als Sophie dann schwanger wird, stehen beide vor der Zerreißprobe ihres Lebens.

 

 

AUTOFIKTIONALER ROMAN

 

Dieser Roman gebärdet sich nicht als ein herrkömmlicher Roman. Carrère verdichtet hier viele Begebenheiten seines eigenen Lebens mit den Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten von Fiktionalität.  Immer wieder gibt es Stellen, die autobiographische Züge tragen. So sei hier zum Beispiel die starke und erfolgreiche Mutter erwähnt, ebenso wie das Geheimnis um den Großvater oder der Versuch von performativer Literatur in einem Zeitungsartikel der Le Monde, der ein spektakuläres Medieninteresse nach sich zieht und dennoch genauso spektakulär scheitert. Dadurch changiert der Text zwischen Reportage und Essay, Autobiographie und Roman. Am Ende findet man gar eine Widmung an die Mutter, die einerseits von Dank zeugt, andererseits aber auch als eine Art Abrechnung gelesen werden kann. Es ist eine Familienbiographie, gespickt mit fiktionalen Begebenheiten, ein Buch, das dem Autor als Therapie diente, um aus dem tatsächlichen Schatten seines Großvaters zu treten.

 

 

FAZIT

 

Ich muss zugeben, dass mir die Erzählung Probleme bereitete. Der Text wird von einer depressiven Stimmung beherrscht, aus der manche scharfsinnigen Gedanken hervorsprießen. Dennoch findet er bei mir nur wenig Anklang. Das liegt zum einen an den verschiedenen Erzählsträngen, die aufgeworfen werden und sich mit der Zeit verlieren oder zu langweilen beginnen. Denn geht es zunächst um die spektakuläre Geschichte des Ungarn, wird darüber im späteren Verlauf kein Wort mehr verloren. Die  Geschichte des Opas, dessen Verschwinden wie ein Damoklesschwert über der Familie hängt und sie zerstört, wird mir mit zu viel Pathos sowie Schicksalsergebenheit erzählt. Schließlich geht es in dem Roman auch um den Film, der gedreht wird, aber nicht voran kommt, dann wiederum um die Beziehung zu Sophie, die immer kurz vor dem Zusammenbruch steht. Besonders anstrengend fand ich hier die durchaus beleidigenden und manchmal triefend selbstmitleidigen Szenen. Doch damit nicht genug, denn auch um die Bewohner des russischen Dorfes wird viel Aufhebens gemacht, bis am Ende die Mutter mehr und mehr ins Rampenlicht rückt, die durch ihre Art der Familie ihren geradezu diktatorischen Stempel aufgedrückt hat, von dem sich der Protagonist zu befreien versucht. Durch all diese Erzählstränge kommt der Roman wie eine Selbsttherapie des Autors daher, der über seine Erfahrungen schreiben musste, um sie zu verarbeiten.

 

Die Kritik feiert den Roman, mir jedoch bleibt er auf eigentümliche Art und Weise verschlossen.

 

 

 

Emmanuel Carrère: Ein russischer Roman

Roman, aus dem Französischen von Claudia Hamm

Gebunden, 282 Seiten

Berlin: MSB Matthes & Seitz Berlin Verlag 2017

 

Mehr Informationen und eine Hörprobe auf der Webseite des Verlags

 

 

 

 

Bildnachweis: 2004-05-14T15:59:18Z UTC Stefan Kühn 600x470 (82656 bytes) Grenoble_Kollaboration_Erschießung // Quelle: Wikimedia Commons