In ihrem neuen Buch wirft die Schriftstellerin ein Licht auf den Schandfleck der Weltgemeinschaft und zeichnet den Weg zweier Syrer nach, die auf
unterschiedliche Weise an der Revolution in ihrem Land teilnehmen, teils aus Begeisterung, teils, weil sie nicht tatenlos zusehen können, wie die Revolution niedergestreckt wird. Durch den
ausufernden Krieg und dessen Verrohung werden sie gezwungen, unterzutauchen, und müssen letztlich den langen und beschwerlichen Weg nach Europa antreten, um zu überleben. Fortan gehören sie einer
neuen Rasse Mensch an, jener der Flüchtlinge.
Hammoudi wohnt in Paris, hat Medizin studiert und arbeitet als Arzt. Eigentlich muss er nur seinen Pass in Syrien verlängern lassen und will die Gelegenheit nutzen, um seine Familie in Deir az-Zour zu besuchen, doch als er wieder zurück nach Frankreich fliegen möchte, wird ihm die Ausreise verweigert. Die Revolution hat begonnen und das Assad-Regime lässt niemanden mehr hinaus, besonders nicht junge Männer.
Amal, eine Schauspielschülerin aus Damaskus, lebt ein sehr "westliches" Leben, sie raucht, trinkt, feiert und hat wechselnde Geschlechtspartner. Dabei führt sie ein sehr priviligiertes Leben, ihr Vater ist reich und einflussreich. Als die Revolution beginnt, marschiert sie mit und demonstriert für weitreichende Reformen. Allerdings wird die Lage von Tag zu Tag bedrohlicher und das Regime kommt ihr auf die Schliche. Schließlich wird sie verhaftet, muss mehrere Tage im Gefängnis verbringen, wird geschlagen und gefoltert und steht nach ihrer Entlassung unter ständiger Beobachtung. Nun kann auch der reiche Vater ihr nicht mehr helfen, so dass sie vor den Schergen des Regimes nach Beirut fliehen muss. Doch der Libanon bietet ihr keinerlei Perspektive, sie wird als Syrerin schikaniert und entscheidet sich, über Istanbul die Reise mit einem Boot nach Italien zu wagen. Von dort aus zieht sie weiter nach Berlin.
Auch Hammoudis Weg führt nach Deutschland, allerdings auf ganz anderem Wege. Seine Heimatstadt wird vom Regime schwer bombadiert. Tag und Nacht arbeitet er als Arzt, obwohl es unter Todesandrohungen streng verboten ist, Rebellen medizinisch zu versorgen. Aus diesem Grund baut er schließlich ein Krankenhaus im Untergrund auf, rettet vielen Menschen das Leben, muss aber auch mitansehen, dass unzählige sterben und mit ihrem Blut nicht nur die Zimmer des provisorischen Krankenhauses rot färben, sondern das ganze Land ertränken. Er bleibt so lange standhaft, bis er vom anrückenden IS bedroht wird, auf dessen Liste er steht. Als einer der letzten flieht er aus der Stadt und gelangt über die Türkei und Lesbos auf der Balkanroute nach Deutschland.
Einer der beiden kommt schließlich an in der neuen Welt und blickt mit zarten Hoffnungen in die Zukunft. Für den anderen hat sich die Autorin ein dunkleres Schicksal ausgedacht.
KRIEGSALLTAG IN SYRIEN
Der Roman ist brutal, brutal erschreckend und real. Die Geschichte spielt in den Jahren zwischen 2011 und 2015. Als Leser wird man Zeuge, wie sich die Lage der Menschen im Land immer mehr zuspitzt und wie schließlich Gewalt und Willkür eskalieren. Detailliert bekommt man vor Augen geführt, wie anfangs friedliche und hoffnungsvolle Demonstrationen niedergeknüppelt werden, wie Leute spurlos verschwinden, vom Geheimdienst entführt werden, wie jeder in Angst und Schrecken lebt, immer in Panik davor, im nächsten Augenblick abgeholt zu werden und für immer in irgendwelchen Verliesen zu verschwinden. Tiefe Brüche gehen durch Freundschaften und Bekanntschaften. Alte Freunde werden zu Verrätern, vor denen man sich hüten muss. Niemand weiß mehr, wem man noch Vertrauen entgegen bringen kann und wem nicht. Auch Folterszenen bleiben dem Leser nicht erspart.
Ebenso bekommt man einen schonungslosen Eindruck vom Krieg, liest in sehr plastischen Schilderungen, wie Menschen sterben und verbluten, wie skrupellos das Regime gegen alle Abtrünnigen und Verdächtigen vorgeht. Man meint zu hören, wie Fassbomben detonieren und alles in Schutt und Asche legen, was einst stand, ja wie ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht werden. Die ganze Willkür des Assad-Regimes wird aufgezeigt, dessen Schergen ganze Landstriche verwüsten und in Grund und Boden stampfen. Natürlich dürfen auch nicht Bilder von Kindern fehlen, die dem Grauen und Wüten ausgesetzt sind und elendig verrecken. Einer der bittersten Momente stellt sich dem jungen Arzt, der in einem Bruchteil einer Sekunde entscheiden muss, welches Menschenleben er für lebenswerter hält, welchem Opfer er sich widmen soll, im Wissen darüber, dass andere sterben werden, während er operiert. Ihm bleibt nicht genügend Zeit, alle Leben zu retten. Und so wird er ungewollt zum Richter über Leben und Tod.
Manche Szenen sind schrecklich und zutiefst beklemmend und bilden doch nur die tägliche Realität des Grauens ab, die sich in Syrien seit Jahren abspielt. Denn durch die Lektüre bekommt man einen schonungslosen Eindruck von der Kriegsrealität in Syrien und kann sich nur schwerlich den erschütternden Alltag jener Menschen vorstellen, die immer noch in ihren bombardierten und verwüsteteten Städten leben und diesem Grauen ausgesetzt sind.
DIE NEUE RASSE MENSCH
Doch nicht nur die Revolution und der Krieg werden in vielen Facetten beschrieben, auch das Leben als Flüchtling wird thematisiert. Man sieht Menschen, die alles verloren haben, die nichts mehr besitzen außer ihrer nackten Haut, die keine Gewissheit und kein Zuhause mehr haben, die in fremden Ländern meist despektierlich aufgenommen werden und Schikanen erleiden müssen. Der Roman lässt den Leser die Fluchtgründe nachvollziehen, da die Menschen vor die Wahl gestellt werden, den lebensgefährlichen Weg nach Europa zu wagen oder im Krieg zu sterben.
Auch über den Versuch, sich einzuleben in einer neuer Kultur fern ab der Heimat, wird berichtet. Die Schwierigkeiten, die sich stellen, die hohen Hürden bei Bürokratie und Sprache in einem fremden Land und mit fremder Kultur samt dem Gefühl von Einsamkeit und Entwurzelung werden erschütternd geschildert. Meist muss man sich allein dem Chaos stellen, sowohl dem äußeren in der fremden Welt, als auch dem inneren, wo Traumata und Alpträume wüten. Das Leben nach der Flucht wird skizziert, ein Leben, in dem man fortan nur noch als Flüchtling gilt und als nichts anderes mehr wahrgenommen wird. Ein Kainsmal stigmatisiert nunmehr den Menschen, dessen Rasse er nicht mehr anzugehören scheint, sondern der einer neuen Rasse zugeordnet wird, jener der Flüchtlinge. Er ist nicht länger Individuum, sondern einzig und allein einer Masse angehörig.
"Die Welt hat eine neue Rasse erfunden, die der Flüchtlinge, Refugees, Muslime oder Newcomer. Die Herablassung ist in jedem Atemzug spürbar."
ROMAN ODER REPORTAGE?
So aufrichtig und ehrlich die Schilderungen das Grauen skizzieren, so große Mängel weist der Roman allerdings meines Erachtens auf. Die Geschichte rund um die beiden Protagonisten scheint als Schnellschuss ersonnen. Beide Protagonisten erhalten eine kleine Hintergrundgeschichte, werden mit einer kurzen Familiengeschichte versehen und fertig ist die Mixtur. Ebenso kommen die Szenen zu undistanziert daher. Gerüche, Geräusche, Alltagsbeschreibungen syrischer Städte werden zu plakativ dargestellt, so dass jede Beschreibung den Anschein erweckt, als wollte die Autorin krampfhaft eine gewisse Stimmung erzeugen. So wirken Essen und Wäscheleinen, die kurz beschrieben werden, wie Fremdkörper in dem Text, einzig dazu da, eine Atmosphäre zu erzeugen, die den Leser jedoch nicht packt. Alles scheint zu gewollt, zu gestellt, zu künstlich kreiert.
Man merkt dem Roman an, dass die Autorin dem Land und ihren Menschen eine Stimme geben wollte, dass sie die Wut im Bauch getrieben hat angesichts der Zustände, die seit Jahren Land und Einwohner verwüsten. Man spürt in jedem Satz ihre Anteilnahme, die sie eingentlich hinter dem sachlichen Ton zu verstecken sucht. So wird aus dem Roman ein politisches Buch, in dessen Vordergrund klar die Absicht steht. Denn dieser Roman soll aufrütteln, soll aufwecken, soll das Leid der Syrer zeigen, soll auf das Problem des Krieges und der Flüchtlinge aufmerksam machen. Die hehren Abichten können jedoch meiner Meinung nach über die Qualität des Romans nicht hinweg täuschen. Denn auch sprachlich setzt der Roman keinerlei Reize. Die sachliche und nüchterne Sprache, in der immer wieder große Gefühle aufgeworfen werden, kommt weder einem Reportagestil nahe, noch einem distanzierten Erzähler, sondern verliert sich irgendwo im Niemandsland dazwischen.
FAZIT
Die Kritik feiert den Roman zuweilen als ein wichtiges Buch, als ein sehr realistisches Buch, gar als ein Weckruf. Und natürlich ist es das, denn es bringt dem Leser das Grauen nahe, es bietet verstörende Einzelheiten, bildet Gräuel der Wirklichkeit ab, die tatsächlich geschehen, während wir uns mit dem alltäglichen Leben beschäftigen. Dennoch hält der literarische Wert nicht mit dem politischen mit, sondern bleibt weit hinter diesem zurück. Die Geschichte ist kaum verdichtet, scheint schnell ausgedacht und vermag durch ihren Ton nicht zu überzeugen. So ist die Erzählung zwar aktuell, blickt jedoch wenig in die Tiefe, sie ist politisch wichtig, jedoch nicht literarisch von Bedeutung.
Wer eine Geschichte über das Grauen Syriens sucht, den wird das Buch wahrscheinlich trotz der Mängel packen und "aufwecken". Wer wissen will, was in Syrien wirklich passiert, wer nachempfinden möchte, was es heißt, ein Flüchtling zu sein, bekommt eine dazugehörige Geschichte. Wer ein poltisches Buch mit aktueller Brisanz sucht, wird hier fündig. Wer jedoch auch nach literarischem Anspruch in einem Roman Ausschau hält, der sollte erst einmal reinlesen. Denn ebenso wie das WAS der Ezählung ist das WIE von großer Bedeutung. Und genau hier fällt der Text als Roman bei mir durch.
Olga Grjasnowa: Gott ist nicht schüchtern
Roman
Gebunden, 309 Seiten
Berlin: Aufbau Verlag 2017
Mehr Informationen und
eine Leseprobe auf der Webseite des Verlages