Sprache als Konstitution von Wirklichkeit - Der Erzähler als Weltenschöpfer
Im Anfang war das Wort – so steht es geschrieben. Mit einer Reihe von Wörtern erschafft der Mensch eine Wirklichkeit, die sich aus dem lexikalischen Reichtum der Sprache speist. Diese anscheinende Wirklichkeit ergibt sich also aus Phonemen und Graphemen. Erst sie erschaffen die Welt, wie wir sie wahrnehmen und verstehen. Erst sie konstituieren unsere Wirklichkeit und hauchen ihr Leben ein, jene Idee des Lebens, die ein jeder auf seine Weise zusammensetzt.
Denn jeder Mensch schreibt und erzählt seine eigene Geschichte. Wer auf sein Leben zurückblickt, betrachtet es als eine in sich geschlossene und zusammenhängende Geschichte. Wer seine Erlebnisse erzählt, schwingt sich zum raunenden Beschwörer seines eigenen Lebens auf und fügt lose Fragmente zu einer schlüssigen Erzählung zusammen. Jede Erfahrung wird retrospektiv in Worte gekleidet, um durch die Ordnung der Sprache dem vorherrschenden Prinzip des Chaos seinen Schrecken zu nehmen. Denn etwas zu benennen, heißt, dem Wahrgenommenen anhand von Begriffen einen Sinn zu verleihen, es also begreifen zu wollen.
Doch jede einzelne Geschichte hätte nicht nur ganz anders verlaufen können, gedenkt man der Willensfreiheit des Menschen. Das Spannendere ist vielmehr, dass die gleichen Erfahrungen auch ganz anders hätten erzählt werden können – und anders zu erzählen, heißt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, die Idee der Wirklichkeit auf anderem Wege zu begreifen.
Genau das macht den Reiz von Erzählungen aus und ist zugleich der Dichtung innerer Kern, denn ebenda, an dieser Stelle unendlicher Möglichkeiten, setzt der Schriftsteller mit seiner Feder an. Ein Schriftsteller jongliert mit den Wahrscheinlichkeiten, die das Leben in unendlicher Fülle zu bieten hat. Er verwebt Ideen von Wirklichkeiten und verdichtet sie zu einem Gefüge, das eine in sich kohärente Ordnung birgt. Auf diese Weise konstituiert er eine andere, dennoch gleichberechtigte Wahrheit. Er erschafft eine neue, gleichwertige Welt.
Dabei ist der Wille und die Lust zu erzählen tief in den Kulturen verwurzelt und webt in uns allen fort. Täglich nehme ich durch die Arbeit mit Migranten aus aller Welt den Drang wahr, Geschichten zu erzählen, anhand derer versucht wird, das Leben zu ordnen und Unaussprechliches zu benennen, stets in der Hoffnung, durch Worte Sinn zu stiften und Erlebtes zu begreifen. Dadurch werde ich immer wieder daran erinnert, dass sich jeder Mensch durch die Wahl seiner Worte eine eigene Wirklichkeit schafft, dass jeder Augenblick unseres Lebens nicht nur anders verlaufen, sondern auch anders erzählt und somit begriffen werden könnte. Jeder von uns lebt deshalb in Geschichten, die er selbst erzählt, die er selbst zum Leben erweckt und zu seiner eigenen Wirklichkeit werden lässt.
Die Kunst des Dichters ist es, diese Verflechtungen zu arrangieren, sich in (un)mögliche und (un)wahrscheinliche Welten hineinzubegeben, um dem Leser Erfahrungen anzubieten, an denen er reifen und wachsen mag, an denen er sich anlehnen kann im Laufe seiner eigenen monströsen und undurchsichtigen Geschichte. Denn durch die Torbögen verschiedener Erzählungen vermag der Leser schließlich in fremde Welten zu schlüpfen, andere Wirklichkeiten nachzuempfinden und Erfahrungen zu sammeln, die ihm im eigenen Leben, in seiner eigenen Geschichte von Hilfe sein können.
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