30 Jahre ist es her, da er dem Elternhaus entfloh, 30 Jahre, da er die Gewalt des Vaters, die Alkoholsucht und Depression der Mutter und die Beschützerrolle für den jüngeren Bruder hinter sich ließ. Immer musste Nick Stärke zeigen und für andere da sein, bis er zersprang und nur noch einen Ausweg sah: die Flucht. Nach all den Jahren kehrt er nun in seinen Heimatort zurück, um die Mutter zu begraben, und steht auf einmal vor den Geistern der Vergangenheit.
Unter all den Büchern, die unter dem allgemeinen Radar laufen, entdeckt man manchmal wahre Juwelen. Dieser Roman ist so ein Juwel, der einen sofort in seinen Bann schlägt.
In feinen Zwischentönen entblättert Jahn vor den Augen des Lesers eine Familiengeschichte, deren Mitglieder auf unterschiedliche Weise geprägt worden sind und deren Traumata über Generationen hinweg vererbt werden. Zwischen den Zeilen schwirrt dabei immer die Frage nach der Familie mit. Denn muss man eigentlich diese Menschen lieben, mit denen man zufällig verwandt ist? Oder sind es nur „Notgemeinschaften, die durch Genetik entstanden sind“?
Beeindruckend ist die Beklommenheit im Roman, die geradezu greifbar wird, wenn es um frühe kindliche Prägungen geht. Die größten Stärken des Romans liegen aber darin, dass genau diese Traumata durch ergreifende Briefe der Mutter kontrastiert werden. Denn sie offenbaren einen ganz anderen Blick auf dieselben Ereignisse. Kann man also das gleiche Leben leben, nur anders?
So viel Tiefe und Menschlichkeit, so viel Zwischenmenschlichkeit und Wahrheit, so viel Leben steckt in dieser Erzählung, dass ich sie wirklich jedem ans Herz lege. Geschrieben in einer leisen, poetischen Sprache voller Subtilität und Feinheiten.
Ein großartiger Roman, der schon jetzt zu meinen absoluten Jahreshighlights zählt.
Hannes Jahn: Das gleiche Leben. Nur anders.
Roman
Klappenbroschur, 215 Seiten
Adakia Verlag, 2024